Alain-Claude Sulzer: Liebe Autorinnen und Autoren, liebe «Landlesen»-Festgesellschaft

Die Zahl der Literaturwettbewerbe und schon gar der Literaturpreise geht in die Hunderte. Wir sind nur einer von sehr vielen, nicht der grösste – natürlich nicht –, aber wahrscheinlich auch nicht der kleinste. Ob unser Landlesen auf den Listen der Literaturwettbewerbe auftaucht, weiss ich nicht. Wenn es dort vergessen wurde, wäre es lediglich ein Beweis, dass Listen nie vollständig sind.
Einen Massstab haben auch wir, und wir haben ihn auch dieses Jahr nach bestem Wissen und Gewissen angewendet, wie es so schön heisst. Wir – die Jurymitglieder – haben gelesen, sind zusammengesessen, haben über die Texte geredet und schliesslich entschieden. Wie immer in solchen Fällen, war es nur selten leicht, zu einer Entscheidung zu gelangen. Doch eine Wahl musste getroffen werden.
Es spielt keine Rolle, auf welchem Rang der Literaturwettbewerbe wir welche Position einnehmen, Hauptsache, man kennt uns hier im Land der einzig teilnahmeberechtigten «Schreibwilligen aus dem unteren Baselbiet, dem Schwarzbubenland und dem Laufental», wie es in den Teilnahmebedingungen prosaisch heisst. Man beachte: -biet, Land und Tal. Das sind ganz schön viele geologische Formationen auf so wenig Raum.
Vorbild für diesen von Barbara Horvath und Helmut Berger, sowie Urs Berger nicht nur initiierten, sondern auch mit unverminderter Tatkraft seit Jahren am Leben erhaltenen Wettbewerb war ein ähnliches Vorgänger-Unterfangen, das die Schauspielerin Brigitte Karner und ihr Mann, der Burg- und Filmschauspieler Peter Simonischek, in der Oststeiermark durchgeführt haben. Das ist ein Grund, aber nicht der einzige Grund, an dieser Stelle Peter Simonischeks zu gedenken, der in diesem Jahr viel zu früh verstorben ist und einigen von uns hier ein guter Freund war.
Sinn und Zweck auch des hiesigen Wettbewerbs ist es, Menschen anzuregen, sich zu äussern, sich über ein vorgegebenes Thema zu äussern, das idealerweise viele Türen öffnet – egal, ob Schreiben in welcher Form auch immer zu ihrem täglichen Geschäft gehört oder eher die Ausnahme bildet, der wir vielleicht ein willkommenes Forum bieten.
Das diesjährige Thema war «Morgen». Es wurde auch diesmal vorsätzlich eine «Aufgabe» gestellt, deren interpretatorisches Spektrum gross ist, sehr gross sogar. So soll es sein. Es reicht vom idyllischen Aufwachen aus dem Tiefschlaf bis zum brutalen Bruch, etwa dann, wenn der oder die Schreibende eines morgens erwacht und feststellen muss, dass über Nacht der Krieg ausgebrochen ist; wenn Bomben fallen, werden Alpträume real. Wo der Morgen im einen Fall die gemächliche Fortsetzung des Gestern bedeutet, steht er im anderen Fall für eine neue, grausame Wirklichkeit, deren Folgen weit über den Tag hinausreichen. Jahrelang manchmal, wie wir etwas besser wissen, seit der Krieg gegen die Ukraine, aber auch der Widerstand gegen Russland in unser Bewusstsein gedrungen ist, ein Krieg, der nicht endet.
Schreiben kann die Bedeutung von Worten verändern, es kann sie ummünzen, blossstellen, auffrischen. Am Morgen krähen nicht nur die harmlosen Hähne, sondern auch jene, die den Verräter blossstellen.
Jede und jeder von Ihnen, die Sie so freundlich und auch mutig waren, uns Ihre Texte anzuvertrauen, wird sich solche oder ähnliche Gedanken gemacht haben, bevor er sich daransetzte, etwas davon aufs Papier in Form zu bringen. Was ist Morgen? Was fällt mir dazu ein? Ich wage es. Sie haben es gewagt. Dafür möchten wir Ihnen allen danken.
Ich weiss nicht, ob Ihnen der Name Dinçer Güçyeter etwas sagt, er wurde kürzlich für sein ausgesprochen lesenswertes autobiografisches Werk «Unser Deutschlandmärchen» mit dem Preis der Leipziger Buchmesse belohnt. Zuvor hatte er bereits einen anderen renommierten Preis erhalten, den Peter-Huchel-Preis für Lyrik. Darüber, wie er davon erfuhr, sagte er kürzlich in einem Interview:
Als ich den Anruf erhielt, dass ich den Peter-Huchel-Preis bekomme, sagte ich: «Einen Moment mal, ich lege jetzt auf, und bitte melden Sie sich in fünf Minuten wieder.» Ich habe mir einen Kaffee gemacht, und sie haben sich in fünf Minuten nochmal gemeldet. Meine Frau war mit den Kindern im Sportverein, ich musste aber mit jemandem reden, da habe ich die Mutter unten im Garten gesehen, ich bin sofort zu ihr gelaufen und habe gesagt: «Mutter, die haben mir einen Preis gegeben.» – «Für was?» – «Ja für die Texte, die ich geschrieben habe.» Da sagte sie: «Zwei Jahre Pandemie, alle haben den Verstand verloren und dir den Preis gegeben. Was hast du wieder angestellt?»
Ob sich eine unserer Preisträgerinnen oder Preisträger in dieser Situation wiedererkennt, weiss ich nicht, mit einer anderen Aussagen Güçyeters hingegen können sich vermutlich die meisten der Teilnehmer an unserem kleinen Wettbewerb identifizieren, gleichgültig ob sie gewonnen haben oder nicht. Sie lautet: Manchmal sind die grössten Geschichten in den kleinsten Fugen versteckt.
Geografisch sind unseren Autorinnen und Autoren Grenzen gesetzt, was die Teilnahmebedingungen angeht; Berner, Zürcher, Luzerner oder Tessiner können nicht mitmachen. Doch geografische Grenzen sind – zumindest in unserem Fall – lediglich bürokratische Hürden, alle anderen Grenzen existieren nicht, wenn es darum geht, sich einem der Themen zu nähern, wie wir sie jeweils vorgeschlagen haben. Frei, Gut, Insel, so hiessen die vorgängigen Themen. Sowohl bei diesen als auch beim Morgen durfte, ja sollte der Bezug weit hergeholt sein; es ist schliesslich das Wesen der Literatur, die Welt weit zu fassen, auch wenn man die Quintessenz des Geschriebenen oft in Nebensätzen findet, in jenen Fugen eben, von denen Güçyeter spricht, in den Leerstellen, in dem, worüber man nicht spricht – und was nun doch einmal gesagt sein muss, ausgesprochen, geflüstert oder gerade durchs Verschweigen ans Tageslicht gebracht.
Noch einmal an alle einen grossen Dank für Ihre Bereitschaft, Ihre Herzen zu öffnen und Ihre Schreibgeräte zu zücken.