Alain Claude Sulzer: Liebe Gäste, liebe Landleser-Autoren, liebe Freunde

Schreiben, sagt Max Frisch, erfordert Mut. Schreiben, sagt Friedrich Dürrenmatt, fordert den Kosmos heraus. Schreiben, sagt Schiller, erhebt den menschlichen Geist. Schreiben, sagt Elke Heidenreich, hilft. Schreiben, sagt Martin Suter, ersetzt das Reisen. Schreiben, sage ich, zwingt einen an den Schreibtisch.

Auch wenn das alles auf Sie nicht zutrifft: Schreiben ersetzt – soviel ist sicher – das Reden, weil man den Mund geschlossen halten kann, ohne schweigen zu müssen. Wer schreibt, redet, egal, ob er einen Tweet versendet, sich über seinen Computer oder ein Stück Papier beugt und seine Finger nach dem Takt seiner Gedanken zu bewegen beginnt: Er redet zu sich selbst oder zu anderen, zu ganz bestimmten anderen oder zu „allen“ anderen, so wie es  die meisten Schriftsteller tun, die sich diesbezüglich in einem Zwischenreich bewegen: Mal haben sie ihre unbekannten Leser im Blick, dann wieder nur sich selbst, meist aber lassen sie die Wörter denken. Vielleicht erging es Ihnen, liebe Autoren, ja auch so, als Sie sich von uns überzeugen ließen, sich auf das Abenteuer Schreiben einzulassen.

Liebe Autoren in dieser Runde: Ich kenne Sie nicht, aber ich kenne nun Ihre Texte, denn meine Mitstreiter und ich haben sie alle gelesen. Gelesen und dann nach einem guten Mittagessen und (fast ohne Wein) nüchtern und kontrovers besprochen. Nun also wissen Sie, wie es ist, zu gewinnen oder – das kommt auch bei Berufsautoren vor – „abgelehnt“ worden zu sein.

Ich kenne Sie nicht, aber ich kenne Ihre Texte, die Texte der Gewinner wie die Texte jener, die diesmal leer ausgegangen sind, also kenne ich Sie doch, zumindest ein bisschen. Als wir die Texte lasen, wussten wir alle nicht, wer jeweils dahinter steckt, welcher Kopf, welcher Körper, nicht einmal welches Geschlecht, auch nicht, welches Alter, denn die Texte wurden anonym eingeschickt, wie das bei solchen Wettbewerben üblich und am besten ist.

Ich weiß nicht, wie wichtig Ihnen der Sieg ist, ganz unwichtig ist er ja selten, wenn man sich herausfordern lässt und sich Herausforderungen aussetzt. Die Sprüche à la  Hauptsache mitmachen oder Mitmachen ist wichtiger als Siegen überzeugen nicht wirklich, nicht nur weil Gewinnen nun mal mehr Vergnügen bereitet als Verlieren, ob beim Jassen, bei Monopoly oder beim edlen Literaturwettstreit. Natürlich haben die meisten Teilnehmer dieses Wettbewerbs mitgemacht, weil sie gewinnen wollten. Dass nicht alle gewinnen können, war aber auch klar.

Sie wollten allerdings ziemlich sicher nicht einfach nur gewinnen, um einen Preis abzuholen, Sie wollten gewinnen, um gehört zu werden. Man sollte wissen, was Ihnen schon länger unter den Nägeln brannte, vielleicht ohne dass es Ihnen bewusst war. Womöglich hat es dieser Wettbewerb ja erst aus Ihnen herausgekitzelt. Und wir? Wir mussten uns unter 126 Einsendungen entscheiden, und das fiel uns nicht leicht.

Ob gesiegt oder nicht: Einen Gewinn haben Sie dank dieses Wettbewerbs vielleicht – ich hoffe es sehr und meine Mitjuroren hoffen es sicher nicht minder – ja doch davongetragen, indem Sie uns ihre Texte anvertrauten: Sie haben sich hingesetzt, um etwas für uns zu schreiben. Ob Sie es nachdenklich und langsam taten, ob Sie wild drauflos schrieben oder stockend, in einem Zug oder langsam vorantastend, Sie waren für eine Weile davon gefangen genommen, nicht frei von diesem Thema „frei“, sondern im besten Fall gefesselt, absorbiert; Sie wollten sich und uns etwas mitteilen, was Ihnen besonders wichtig war.

Es ist vermutlich kein Zufall, dass ausgerechnet Schauspieler – und nicht etwa Schriftsteller – auf die Idee dieser Veranstaltung gekommen sind. Erstens natürlich, weil sie dann wieder einmal auf der Bühnen stehen können, und zweitens weil sie von Haus aus neugierige Menschen sind. Und was könnte ihre Neugierde besser stillen als der Einblick in das Umfeld, in dem sie sich bewegen. Barbara Horvath und Helmut Berger sind vermutlich glücklichere Biel-Benkemer als so mancher Ur-Biel-Benkemer, und sie wollten – wie sie mir einmal sagten – etwas von ihrem Glücksgefühl an jene zurückgeben, die es in ihnen täglich oder zumindest immer mal wieder bescheren; also haben sie dieses Landlesen organisiert.

Als neugierige Schauspieler und Zeitgenossen wollten sie aber natürlich vor allem etwas wissen von ihren Nachbarn, von ihren Ideen, ihren Gedanken, ihren Wünschen, ihren Gemütszuständen. Kurz: Sie wollte ihre Geschichten!

Erfindung gehört zum Schreiben. Was wir hier gleich hören werden, entspricht wohl nur selten 1:1 der Wirklichkeit jener, die uns ihre Texte anvertraut haben. Fantasie und Erfindung wird auch dabei sein, wie immer beim Schreiben. Erfunden sind übrigens auch die Worte der Autoren, die ich eingangs zitiert habe, sie stammen weder von Frisch noch Dürrenmatt noch Schiller, weder von Elke Heidenreich noch von Martin Suter – sie wurden allesamt für diesen Anlass, diese Rede erfunden. Ich hab sie den Berühmtheiten, wenngleich nicht völlig wahllos, in den Mund gelegt, weil es zur dichterischen Freiheit gehört, anderen Sätze in den Mund zu legen, die sie in Wahrheit nie gesagt oder geschrieben haben, was nicht heißt, dass sie sie nicht gesagt, gedacht oder geschrieben haben könnten.

Das Denken im Konjunktiv gehört zu den wichtigsten menschlichen Errungenschaften, ohne Konjunktiv, sässen wir vermutlich heute noch frierend auf den Bäumen und würden uns nicht fragen, wie es wäre, wenn uns ein Feuer wärmen würde, an dem man uns Geschichten erzählen würde, die davon handeln würden, wie wir einst von den Bäumen stiegen, um uns ans Feuer zu setzen und unwahrscheinlichen und wahrscheinlichen Geschichten zu horchen. Ohne den Konjunktiv, ohne den sich keine Geschichten erzählen lassen, wären wir vermutlich längst ausgestorben.

In diesem Sinn in die Runde gefragt: Was wäre das Leben ohne das Landlesen?