Alain Claude Sulzer: Liebe Gäste, liebe Landleser-Autoren, liebe Freunde

Wo lesen Sie am liebsten? Wie lesen Sie am liebsten? Lassen Sie sich gern vorlesen? Lesen Sie selbst gern vor? Ziehen Sie Hörbücher einem Buch aus Papier und Buchstaben vor? Lesen Sie E-Books? Lesen Sie lieber auf einem Stuhl als auf einem Sessel, am liebsten auf dem Sofa oder überhaupt nur im Bett? (Mal angenommen, Sie lesen überhaupt und nicht grundsätzlich gar nicht.)

Als Kind lernt man vieles, manches wie von allein, anderes auf Anweisung der Erwachsenen. Man lernt, auf Windeln zu verzichten. Man lernt, dass feste Nahrung besser ist als Muttermilch und Brei. Man lernt mit Löffel und Gabel umzugehen; wenn es soweit ist, darf man sogar mit dem Messer hantieren. Man lernt, beim Essen (möglichst) am Tisch zu sitzen und die Hand vor den Mund zu halten, wenn man gähnt. (Heutzutage allerdings selten geworden.) Man lernt Fahrrad fahren, man lernt rechnen, lesen und schreiben, aber niemand sagt einem, wie und wo man lesen soll.

Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass man, wo immer man liest, ja stets woanders ist als dort, wo man liest. Das wissen auch unsere Erzieher. Insofern spielt der Ort, an dem wir lesen, überhaupt keine Rolle. Egal ob auf einem Stuhl oder Sessel, auf dem Sofa oder im Bett: wenn man liest, sitzt oder liegt man zwar, ist aber in Wahrheit weder auf einem Stuhl noch auf einem Sessel, weder auf einem Sofa noch im Bett, man ist vielmehr im Buch, das man liest, man ist bei den Personen, bei den Beschreibungen, bei den Bildern. So will es der Autor, so will es der Leser, der sich diese Technik bereits bei der Lektüre seines allerersten Bilderbuchs angeeignet hat.

 

Und wo und wann schreiben Sie am liebsten, wenn ich fragen darf? Insbesondere natürlich Sie unter uns, die uns Ihre Geschichten und Gedichte, ihre Erlebnisse und Erdichtungen anvertraut haben. Hat man Ihnen je eingeschärft: Schreib nur an einem runden oder eckigen Tisch; hat man Ihnen schon im zarten Kindesalter erzählt: Der Tisch, an dem Du sitzt, muss aus Holz, aus Eisen oder aus Stein sein? Wenn Du schreibst, tu es morgens, mittags oder abends so wie man sich morgens, mittags und abends an den Tisch setzt, um zu essen?

Nein, natürlich nicht. Dass wir den richtigen Ort schon finden würden, an dem wir unsere Einkaufszettel, Aufsätze, Gedichte oder Romane schreiben, hielt man stillschweigend für selbstverständlich. Das muss man niemandem beibringen. Man ist frei zu schreiben, wo man will – und – jedenfalls in unserer Weltgegend – was man will. Gutes wie Schlechtes, Gelungenes wie Misslungenes lässt sich zu jeder Zeit und überall, auf jeder Unterlage, auf jedem Medium schreiben, das dazu dient, unser Denken und Fantasieren schriftlich festzuhalten: Ob Tierhaut, Pergament, Stein, Schrifttafel, Papier oder Bildschirm, ob mit Griffel, Bleistift, Füllfeder, über eine Tastatur oder direkt auf den Bildschirm: Man schreibt auf alles und mit allem, was sich dazu eignet. Wo und wie, worauf und wann man am liebsten schreibt, liegt also ganz in unserem Ermessen.

 

Wie aber steht um das das Hören, das ich anfangs erwähnte? Wo hören Sie am liebsten zu, wenn gelesen werden soll, was geschrieben wurde? Wenn ich sehe, wie zahlreich Sie auch in diesem Jahr bei unverändert schönem Wetter, bei gleich hoher August-Temperatur, in diesem Saal erschienen sind, habe ich fast den Eindruck, dass es just hier in Biel-Benken ist, wo Sie sich am liebsten noch Unbekanntes, nie zuvor Gehörtes vorlesen lassen.